Als ich zum Jahreswechsel meinen Rückblick auf das Jahr 2023 geschrieben habe, habe ich erkannt, dass in mir ein ausgeprägtes ‚Zweifler-System‘ existiert. Mich überkam zunächst Unbehagen. Viele Menschen haben eine Abneigung gegenüber dem Zweifel und das wirft die Fragen auf: Warum ist uns das Zweifeln so unangenehm?
Zweifeln ist tatsächlich eine sehr spannende Eigenart unseres Verstandes.
Ich habe mal recherchiert und meine Gedanken gesammelt:
Zweifeln damals
Zweifeln kommt vom Althochdeutschen „zwivel“ und das heißt so viel wie zweifach oder zweifältig – das Gegenteil von einfältig.
In der Epoche vor der Aufklärung prägte die Kirche die Gesellschaft mit starken Glaubenssätzen und Dogmatismus. Zweifel galt damals weitgehend als Ketzerei und Sünde.
Die Aufklärung hingegen erklärte den Zweifel zum Ursprung aller Erkenntnisse. Descartes „Cogito ergo sum“ (Ich denke also bin ich) funktioniert nur durch und mit dem Zweifeln. „Doch woher weiß ich, ob das, was mit mir geschieht, Zweifeln ist, ob ich mich täusche, dass ich „ich“ bin und dass ich „bin“? Wenn ich aber zweifle, so kann ich selbst dann, wenn ich mich täusche, nicht daran zweifeln, dass ich zweifle und dass ich es bin, der zweifelt, d. h. ich bin als Denkender in jedem Fall existent. Der erste unbezweifelbare Satz heißt also: „Ich bin, ich existiere“ (Original lat.: ego sum, ego existo).“ (Zitat aus Wikipedia, an dem ich im Rahmen dieses kleine Essay nicht zweifele😅)
Karl Marx war der Überzeugung, dass an allem Bestehenden gezweifelt werden müsse, nur so sei ein Fortschreiten des Denkens möglich. Interessant ist, dass dann die Regierenden der kommunistischen Staaten den Zweifel in der Bevölkerung an der Staatsform durch rigide Strafmaßnahmen fast unmöglich gemacht haben.
Zweifeln heute
Auch in unserem heutigen wissenschaftlichen Denken spielt der Zweifel eine wichtige Rolle: „Wir müssen unbedingt Raum für Zweifel lassen, sonst gibt es keinen Fortschritt, kein Dazulernen. Man kann nichts Neues herausfinden, wenn man nicht vorher eine Frage stellt. Und um zu fragen, bedarf es des Zweifelns.“ sagt Richard P. Freynman, Physiker und Nobelpreisträger
In Führungspositionen sind Zweifel allerdings nicht populär. Entscheidungsstarke Persönlichkeiten mit einer klaren Meinung, die uns sagen, was richtig und falsch ist, vermitteln Verlässlichkeit und Kompetenz. Hier wird Zweifel durchaus als Schwäche angesehen, ein typisch maskulines Denkmuster.
Nicht zu zweifeln bedeutet in diesem Zusammenhang Klarheit und Eindeutigkeit. Und genau das wollen wir ja auch alle so gern. Schnelligkeit und Effizienz sind Werte, die unsere heutige Gesellschaft prägen.
Außerdem sehnen wir Menschen uns nach Sicherheit. Von Führungspersönlichkeiten wünschen wir uns, dass sie uns das geben. Allerdings gibt es keine Sicherheit und keine Gewissheit. Das fällt uns Menschen so schwer zu akzeptieren.
Was passiert, wenn wir zweifeln?
Vorneweg: Zweifeln ist super anstrengend, für den Zweifler selbst und für das Umfeld. Man muss Zweifel aushalten können!
Ausgangspunkt des Zweifels ist meist ein diffuses Gefühl, das etwas nicht stimmig ist, ohne eine eindeutig definierte gegenteilige Meinung zu haben, ohne zu wissen, wie es stimmig oder „richtig“ ist.
Und wenn wir nicht wissen, wie es weiter geht, fühlen wir uns unsicher. Und das ist eine der unangenehmen Seiten des Zweifels.
Zweifel bringt Unsicherheit mit sich und Unsicherheit hat die Angst im Rucksack – zwei Gefühle, die in unserer Gesellschaft als negativ angesehen werden, die sich unangenehm anfühlen und die wir vermeiden möchte. Wir Menschen sehnen uns wie schon gesagt nach Sicherheit, und das Zweifeln wird zum unliebsamen Unruhestifter.
Unruhestifter ebnen aber anderseits den Weg zu Veränderung und zu etwa Neuem. Wenn wir nicht wissen, wo es lang geht, müssen wir Wege abseits des gewohnten Trampelpfades gehen. Unser Autopilot funktioniert nicht mehr.
Zweifeln ist nie eine schnelle, spontane Reaktion unseres Verstandes. Solange der Verstand auf Autopilot fährt, zweifeln wir nicht. Zweifeln braucht Zeit. Zweifeln gehört somit zum langsamen und präzisen Denken. (nach Kahnemann)
Und Zweifeln ermöglicht uns die Facetten jenseits von richtig und falsch zu sehen. Denn wenige Dinge in unserem Leben sind wirklich eindeutig.
Im Zweifel gefangen sein
Wir können allerdings den Zweifel auch benutzen, um uns dahinter zu verstecken, um nicht die volle Verantwortung für unser Handeln und unser Leben zu übernehmen. Wenn wir uns nicht festlegen (wollen), committen wir uns auch nicht, denn etwas anderes könnte ja doch besser, schöner, weiter, schneller sein….
Und dann besteht die Gefahr, dass wir im Zweifel steckenbleiben. Wenn wir alles anzweifeln, kommen wir nicht weiter und sind handlungsunfähig. Wir verharren im Zweifel.
Das nennt man dann auch zaudern.
Schritt für Schritt ins Vertrauen
Um nicht steckenzubleiben, müssen wir weitergehen, mit dem Zweifel als guten Freund und Ratgeber an der Hand, Schritt für Schritt ins Vertrauen.
Und zwar Vertrauen in den eigenen Weg, ohne die Gewissheit, ob und wo wir ankommen.
Und wenn ich möchte, kann ich bei jedem Schritt neu zweifeln und trotzdem weitergehen, vielleicht auch in eine andere Richtung. Dieser Weg ist sehr klar aber eben nicht eindeutig…
Die Zweifel (aus)halten und die Ambiguität des Lebens genießen!
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